
Das ganze Motorrad wirkt ungewöhnlich: Eine Lichtanlage sucht man vergebens und die Felgen messen ungebräuchliche 21 Zoll. Das Vorderrad steckt in einer Trapezgabel, das Hinterrad in einer eigenwilligen Schwinge. Doch erst der Motor: Die Abgasrohre verlassen den glatten Zylinder ganz hinten. Zwei Vergaser sind jeweils seitlich am Zylinder fixiert und unter dem Wasserkühler sitzt vertikal eine verrippte Trommel am Gehäuse. Spätestens jetzt wissen Kenner, was vor Ihnen steht: eine der legendären DKW SS 250.
SS steht hier für „Super-Sport“ und anders als bei einigen Hondas aus den 1970ern ist „Super-Sport“ bei den DKW SS-Motoren kein Marketingdenglish, sondern ein eingelöstes Versprechen.
Speziell die 250er DKW Rennzweitakter, triumphierten dort, wo sie in den 1930er Jahren auftraten. Die deutsche Meisterschaft der 250 cm³-Klasse wirkte aufgrund der hohen SS 250-Dichte wie ein Markenpokal. Diese Überlegenheit erklärt sich aus dem Motor, der mit hoher Komplexität die systemischen Schwächen des Zweitakters überspielen sollte und konnte.
Die Entwicklung dieser nahezu nur in Deutschland zu findenden, mittels Ladepumpe gedopten Zweitakter begann in den frühen 1920er Jahren: DKW-Gründer Jörgen-Skafte Rasmussen überwarf sich mit Vollbluttechniker Hugo Ruppe, dessen Zweitakter den Mittelständler DKW zum Produzenten von Zweitaktmotorrädern gemacht hatte. Ruppe wollte mittels Ladepumpe die DKW-Motoren aufladen und so die Leistung steigern. Rasmussen war diese komplexe Technik -mit wesentlich mehr Teilen und Bearbeitungsschritten- als Hersteller braver Alltagsvehikel zu teuer, und ihre Wege trennten sich bereits 1921. Überraschend war allerdings zwei Jahre später, dass die von Ruppe konstruierten, Berliner Bekamo- und TX-Ladepumpen-Maschinen ab 1924 die sieggewohnten DKW-Motorräder auf den Rennstrecken so unter Druck setzten, dass DKW gezwungen wurde selbst aufgeladene Renntriebwerke zu entwickeln. Der zuvor frustrierte Ruppe stand hinter den Bekamo-Ladepumpen-Motoren und stellte die Richtigkeit seiner Ideen mit süßer Rache unter Beweis.
Der im Bekamo-Motor von einem Exzenter mit Pleuel angesteuerte gegenläufig zum Arbeitskolben werkelnde Ladepumpenkolben verstärkte den Ansaugvorgang und sorgte für eine stärkere Füllung im Kurbelhaus als es nur der atmosphärische Unterdruck des normalen Zweitaktmotors vermocht hätte. Ohne Aufladung war es zuvor nicht möglich gewesen in den Arbeitszylinder die Gasmengen zu bringen, die seinem Hubraum entsprachen. Lediglich 40 % gelangten wirklich in den Brennraum. Abhilfe versprach nun die Ladepumpe, die den Unterdruck im Kurbelhaus erhöhte, wenn es ans Ansaugen ging. Diese verbesserte Füllung gelangte über die Überströmkanäle in den Brennraum. Das erhöhte Fördervolumen im Kurbelgehäuse führte dazu, dass auch bei höheren Drehzahlen ausreichend Füllung zur Verfügung stand, um trotz knapper Zeitquerschnitte die Füllung zu erhalten und so die Leistung weiter zu steigern.
Die Ladepumpe war keine Erfindung von Ruppe und auch nicht patentgeschützt. Den ersten Ladepumpenmotor baute Nicolaus August Otto bereits in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Ruppe gebührt der Verdienst als Erster einen effizienten Ladepumpenzweitakter gebaut zu haben, dessen Frischgasverluste sich in bescheidenem Rahmen hielten.

Bei DKW, wo man über die schnellen Berliner Bekamo-Zweitakter entsetzt war, reagierte die Leitung rasch. 1925 entwickelte der neue Chefkonstrukteur Hermann Weber eine Ladepumpen-Rennmaschine, die bald zu den siegträchtigsten Motorrädern der 175 cm³-Klasse gehören sollte. Die ARe 175 gab es als Komplettmotorrad oder in Form eines Triebwerks zum Selbstbau einer Rennmaschine. Mit der ARe begann sich die Technik der DKW-Rennmotorräder von den braven Serienmaschinen aus Zschopau deutlich zu entfernen.
Damit war das erste Alleinstellungsmerkmal der DKW-Renner fixiert. Die Ladepumpe! Das funktionierte nach und nach auch in den Viertel- und Halbliterklassen bis 1930. Zu Diesem Zeitpunkt schienen weitere Leistungssteigerungen der Ladepumpenmotoren ausgeschlossen. Mittlerweile war die Voreilung des Ladepumpenkolbens bei 36 Grad angelangt und sowohl DKW-Rennleiter August Prüssing als auch Chefkonstrukteur Weber war klar, dass neue Wege beschritten werden müssten, um den Zweitaktmotor im Rennsport auf Dauer konkurrenzfähig zu halten.
Die bislang gebauten Rennmotorräder besaßen als aufgrund ihrer KolbensSteuerung durch den Kolben in einem Arbeitszylinder eine symmetrisches Steuerdiagramm. Der voreilende Ladepumpenkolben brachte zwar eine bessere Füllung, jedoch gingen nach wie vor enorme Frischgasmengen durch den beim Überströmen offenen Auslassschlitz verloren, was weiteren Leistungssteigerungen im Weg stand. Abhilfe sollte 1932 ein System des Schweiitzer Konstrukteurs Arnold Zoller schaffen, der schon einige Jahre in Zschopau tätig war. Dort entwickelte er Doppelkolbenmotoren, die perspektivisch die querstromgespülten Einkölbler der Serienfahrzeuge ablösen sollten. Das Doppelkolbenprinzip beruht darauf, dass sich zwei Kolben einen gemeinsamen Brennraum teilen, und der einee Kolben für Einlass- und der zweite Kolben für die Auslasssteuerung benutzt wird.
Die für Zoller patentierte Besonderheit dieser Motoren, war ein am Fuß des Hauptpleuels angelenktes Nebenpleuel, das Steuerwinkelasymmetrien ermöglichte. Damit war der Weg frei, um Steuerzeiten zu erreichen, die den Auslass schon offenhielten, bevor die Überströmschlitze für das Frischgas geöffnet wurden -, also lediglich Altgase den Brennraum verließen. Weiterhin konnten Überströmer offenbleiben, während der Kolben schon wieder auf dem Weg nach oben und damit , obwohl der Auslass bereits geschlossen war. Damit füllte sich der Brennraum besser, was hinsichtlich Verbrauch und Leistung nur Vorteile bot. Noch dazu war es weiterhin möglich per Ladepumpe oder Kompressor den Verdichtungsraum zu überladen, was weitere Leistungssteigerungen erbrachtenach sich zog. Diese Motoren wurden DKW-intern als „U-Motoren“ bezeichnet, da sie als Gegenkolbenmotoren mit um 180 Grad umgebogenemn Brennraum bezeichnet wurden.
Für die DKW-Serienmotoren blieb es bei der nahezu zeitgleich eingekauften Umkehrspülung, die den einfachen Alltagszweitakter massiv voranbrachte, so dass Doppelkolben und Ladepumpe den DKW-Racern vorbehalten blieb. Ein V 4-Motor mit Ladepumpe für das „Schwebeklasse“ genannte PKW-Modell von DKW blieb ein Solitär.
Doch für den Rennsport stellte sich der Doppelkolbenmotor nach dem System Zoller als ideal heraus, da so eine präzise Spülung mit großen Steuerwinkel-Asymmetrien möglich wurde. Für den Sport spielte der zusätzliche Bauaufwand gegenüber der Serie keine große Rolle, so dass Hermann Weber und Sportchef August Prüssing konform darin gingen, die DKW-Rennmotoren auf Zollers System umzustellen und diese Triebwerke dazu noch mittels der bewährten Ladepumpe zu „boosten“. Das ein Einzylinder-Rennmotorrad wie die URe 250 plötzlich drei Kolben und je drei obere und untere Pleuellager brauchte, störte niemand in der DKW-Rennabteilung. Genauso wenig interessierte der infernalische Lärm, den die ungedämpften, überladenen Motoren erzeugten oder die Verbräuche, die den 20 Liter fassenden Tank der gezeigten Maschine im Rennbetrieb binnen 150 Kilometern leerten.

1935 erschien mit dem Modell SS 250 erstmals solch ein Triebwerk als „UL 250/35“ in einem käuflichen Motorrad. Der Doppelkölbler mit Thermosiphon-Flüssigkeitskühlung besaß wie die Werks-Rennmaschine URe ebenfalls eine nach vorn gerichtete Ladepumpe. Diese arbeitete direkt in das Kurbelhaus. Von außen war der Motor im Vergleich zu den URe-Rennmotoren leicht daran erkennbar, dass die Vergaser seitlich am Zylinderfuß angeflanscht waren. Für die Steuerung des Gaswechsels war der mit Voreilung arbeitende Auslasskolben zuständig.
Mit 20 PS bei 5.000/min war die DKW UL 250/35, vulgo Supersport 250, die klassenstärkste Maschine, die es für Geld gab. Übliche deutsche 250er leisteten 9 PS und selbst eine supersportliche, vierventilige Rudge 250 dürfte -wenn man sie aus dem Laden schob- nicht mehr als 12 PS hergegeben haben. Da waren die 20 PS der DKW absolut atemberaubend. Sehr sportliche Straßenmaschinen mit dem doppeltem Hubraum sollten kaum die rund 140 km/h erreichen, die eine SS 250 „aus der Tüte“ schaffte. Zum Vergleich: Ein Horch-PKW mit 3,5 l Hubraum wäre nicht in der Lage gewesen dieser 250er zu folgen!
Der unorthodoxe Motor bestach durch seine kompakte und leichte Bauweise. Leicht war er durch die reichliche Verwendung von Magnesium und Leichtmetallen. Lediglich der aus Grauguss gefertigte Zylinder samt dickwandigem Wassermantel wog schwer. Das seit 1936 viergängige Getriebe in eigenem Gehäuse war an die Rückwand des Kurbelhauses mit Schrauben angeflanscht, sozusagen als Semi-Blockmotor. Den Primärantrieb sicherten geradverzahnte Zahnräder, das vordere direkt auf der Kurbelwelle. Die Rolle des hinteren Zahnrades übernahm der außenverzahnte Kupplungskorb der Ölbadkupplung. In einem halbrunden Gehäuse oberhalb des Getriebes war der Schaltmechanismus der Fußschaltung untergebracht. Über dem Primärantrieb wölbte sich der aus Leichtmetall gegossene Kupplungsdeckel, in dem die Kupplungsschnecke mit der Betätigung der Druckplatte und die Getriebeentlüftung saßen.
Doch die Spezifika erwarten uns weiter vorn. Wenn das Benzin-Luftgemisch aus den beiden Vergasern vom Zylinderfuß in das Kurbelhaus gelangte, wurde es bei jeder Kurbelwellenumdrehung von der Unterseite des Ladepumpenkolbens komprimiert. So ließen sich Frischgasvolumina in die Überströmer schicken, die komprimiert dem tatsächlichen Hubraum entsprachen.
Über dem Einlasskolben lag der eigentliche Brennraum, in dem das überkomprimierte Gemisch entzündet wurde und den Motor antrieb. Der Auslasskolben dagegen fungierte praktisch nur als Steuerorgan für den Auslassschlitz, was ihn mangels Frischgaskühlung stets gefährdete. Daher war Wasserkühlung ein Muss: Vom Zylinderdeckel stieg das heiße Kühlwasser dank Thermosiphonprinzip nach vorn in die Oberseite des Kühlers. Im Kühler kühlte sich das Wasser durch den Fahrtwind ab und sank dann nach unten, um am Zylinderfuß über die beiden Stutzen wieder einzuströmen.
Das Besondere an diesem Triebwerk waren nicht unbedingt die Komponenten wie Schaltung, Zündung oder die Kühlung. Die Raffinesse der DKW-Techniker lag schlicht in der akribischen Empirie, mit der Weber, Prüssing und die Mitarbeiter der Rennabteilung die leistungsbestimmenden Faktoren wie Füllungsgrad, Steuerzeiten, Verdichtung und Ladungswechsel so perfekt wie niemand anderes auf diesem Planeten abstimmten. Dem Triebwerk ist anzumerken, dass damals in Zschopau begonnen wurde den Zweitakter als Strömungsmaschine und nicht mehr als Verdrängermaschine (wie den von der Dampfmaschine abstammenden Viertakter) zu begreifen.
Doch auch beim Chassis blieb die Entwicklung nicht stehen: Hatte die 1935er SS 250 noch ein von der Straßenmaschine SB 500 adaptiertes Pressblechchassis besessen, setzte schon der 1936er Jahrgang auf ein steiferes und leichteres Rohrrahmenchassis, das von einer ebensolchen Trapezgabel ergänzt wurde. Seither war die Werksmaschine vom Vorjahr Basis der Kleinserie. Pro Jahr entstanden maximal 40 SS 250, die für RM 2.000,- nicht verkauft, sondern zugeteilt wurden. DKW verdiente daran nichts, hatte aber so kostenlose „Reklame“ und einen ganzen Kader Ladepumpen erfahrener Nachwuchspiloten zur späteren Auswahl für das Werksteam.
Den nächsten Technologieschub erhielt die SS 250 für die Saison 1938. Erstmals trug ein käufliches Motorrad Auspuffmegafone sowie eine Vollnabenbremse aus Elektronguss, die in Wirkung und Standfestigkeit den üblichen Halbnabenbremsen weit überlegen war. Dazu kam eine Schwinge für das Hinterrad, für die DKW brav Lizenzgebühren an Benelli in Pesaro überwies. Außerdem verkleidete Vergaser, die sich als wirksames Mittel gegenüber Abmagerungen erwiesen. Alle Änderungen waren im Vorjahr an den Werksmaschinen erfolgreich ausprobiert worden. Die Leistungsangabe blieb stets bei 20 PS, wobei durch die Entwicklung des Motors sicherlich das eine oder andere PS dazu kam und das Motorrad noch Tuning-Potential bot. Die ULD 250 Werksrenner starteten 1939 mit 30 PS. Die SS 250 erhielt als letzte Änderung für 1939 noch Vergaser, die zwischen den Auspuffrohren platziert wurden.
Ideologisch verblendeter Größenwahn ließ nicht nur die Entwicklung der Renn-DKW stoppen. Der verlorene Krieg spülte auch zwei SS 250 nach England. Eine davon steht heute in der Sammlung Motorrad des PS.SPEICHERS. Das von Joe Ehrlich betreute Rad wurde 1947 als „EMC“ (für „Ehrlich Motorcycles“) unter Ray Petty vierter in der 250er Klasse des Manx Grand Prix auf der Isle of Man. Da in diesem Jahr international das Verbot aufgeladener Motorräder im Rennsport griff, sollte das der letzte echte Einsatz einer Ladepumpen-DKW auf der Isle of Man gewesen sein. 1977 lief die Maschine das letzte Mal bei einem Clubrennen in Cadwell Park. Seit mehr als zehn Jahren erfreut das niemals restaurierte Originalfahrzeug Besucher in Einbeck!
Buchtipp:
Die Marke engagierte sich stets massiv im Rennsport. Von 1922 bis 1958 wurden in Zschopau und später in Ingolstadt die Grundlagen der Zweitakttechnik erforscht, optimiert und in siegfähige Motorräder umgesetzt. Sowohl bei Straßenrennen wie auch im Geländesport und im Moto Cross der 1950er Jahre. Akribische Archivrecherche mit Unterstützung der Audi Tradition versetzte Andy Schwietzer in die Lage das ultimative Standardwerk über den Rennsport mit DKW-Motorrädern und ihre technische Genese zu schreiben. Zwei Hardcover-Bände im dekorativen Schuber mit je 278 Seiten und über 1000 Illustrationen lassen keine Frage offen.
HC, Hochformat DIN A 4, 55,- €. In jeder Buchhandlung unter ISBN 978-3-9806631 bestellbar oder portofrei in BRD direkt beim Verlag. Siehe www.bodensteinerverlag.de